Wissenschaftsfreiheit: Stellungnahme der Studentischen Vollversammlung

Bei der ersten digitalen Studentischen Vollversammlung am 22. März 2021, stimmten die anwesenden Studierenden folgender Stellungnahme mehrheitlich zu.

Ein Netzwerk von Wissenschaftler*innen behauptet, die freie Forschung an Hochschulen in Deutschland werde von einer sogenannten Cancel Culture von links gefährdet. Wissenschaftler*innen müssten mit öffentlicher Diskreditierung und der Erstickung wissenschaftlicher Debatten rechnen. Diese Behauptung ist nicht einfach aus der Luft gegriffen: Tatsächlich müssen Wissenschaftler*innen, etwa bei Forschungen zur genetischen Grundlage von Intelligenz, mit einer öffentlichen Debatte über die eugenischen Grundannahmen hinter einer solchen Forschung rechnen.

Die Vorstellung, Wissenschaftler*innen vor dieser Debatte zu schützen, ist antidemokratisch. Auch die Vorstellung, eine öffentliche Debatte habe ausschließlich in Form von „sachlichen“ Beiträgen (also ohne Ideologiekritik) in Zeitschriften und Zeitungen stattzufinden, ist elitaristischer Unsinn und mit demokratischen Grundrechten wie Versammlungs- und Redefreiheit nicht vereinbar.

Es ist in der Tat notwendig, über Wissenschaftsfreiheit zu reden. In den letzten Jahren war in der Bundesrepublik viel die Rede von den illiberalen Tendenzen in Ungarn und der Türkei, von Angriffen dieser Länder auf die Wissenschaftsfreiheit. Erst zu Beginn dieses Jahres kam es wegen der Ernennung eines Universitätspräsidenten der Bogazici Universität in Istanbul durch den Staatspräsidenten Erdogan zu massiven Protesten, über die sich deutsche Politiker*innen weitgehend wohlwollend äußern. Doch die strukturellen Grundlagen für solche Angriffe werden nicht gesehen:

Die zunehmende Machtkonzentration in Rektoraten, die Aushebelung der Hochschulautonomie insbesondere bei der Rektoratswahl, die Einschränkung der Studierendenrechte und die Ausweitung von ordnungsrechtlichen Maßnahmen gegen universitäre Proteste. Wer sich diese Grundlagen anschaut, wird schnell feststellen, dass auch hierzulande die Hochschuldemokratie und -autonomie massiven Angriffen ausgesetzt ist. Doch weil die AfD, die die freie Wissenschaft politisch angreift, noch nicht die Wissenschaftspolitik mitgestaltet und damit diese strukturellen Weichenstellungen ausnutzen kann, wird diese Gefahr einfach ausgeblendet.

Die neoliberale und autoritäre Reorganisation der Hochschule ist schon jetzt ein Angriff auf die freie Wissenschaft, da Forschung nur noch mit Blick auf Drittmittel und Impact-Score möglich ist. Viele der Missstände, gegen die sie auch die Verfasste Studierendenschaft ausspricht, schränken ebenfalls praktisch die Wissenschaftsfreiheit ein: Kettenbefristung, Drittmittelabhängigkeit, mangelnde Hochschuldemokratie und übermäßige Machtkonzentration in Hochschulleitungen etc. pp.

Das Netzwerk für Wissenschaftsfreiheit sieht aber ausgerechnet in einem der letzten Residuen der Hochschuldemokratie, der universitären Protestkultur, eine Gefahr. Sie sehen nicht, dass sie durch die Anrufung einer autoritären Technokratie zur Unterbindung demokratischer Konfliktkultur letztlich auch ihre eigene Freiheit aufgeben: Denn wo Freiheit lediglich durch eine höhere Autorität gewährt wird und nicht selbst durch autonome und demokratische Organisation errungen wird, kann sie jederzeit wieder entzogen werden, gilt also nur, solange sie genehm ist und ist daher keine.

Die Studentische Vollversammlung bekennt sich klar zur Freiheit der Wissenschaft und stellt fest:

Diese kann nur im Rahmen von wirklich autonomen Hochschulen und Instituten gelebt werden. Diese wirkliche Autonomie ist untrennbar verbunden mit demokratischer Organisation. Wir weisen daher jeden Versuch, Wissenschaftsfreiheit und Hochschuldemokratie gegeneinander auszuspielen, zurück. Vielmehr rufen wir alle Hochschulmitglieder auf, sich für die Verwirklichung der Demokratie an Hochschulen einzusetzen und diese gegen Angriffe von Außen wie von Innen zu verteidigen.

Eine wahrhaft demokratische Hochschule ist langfristig auch nur in einer wirklich demokratischen Gesellschaft möglich. Während Wissenschaft im besten Sinne dazu beiträgt, Ideologien zu kritisieren, Herrschaftsverhältnisse sichtbar zu machen und Beteiligungsprobleme zu lösen, arbeitet Pseudo-Wissenschaft am genauen Gegenteil.

Hier werden Herrschaftsverhältnisse als natürlich erklärt, legitimiert, Ideologie unkritisch reproduziert und letztlich Beteiligungsprobleme geschaffen. Demokratische Auseinandersetzungen an Hochschulen sollen nach der Vorstellung des „Netzwerkes“ nur in „sachlichen“, am besten fachinternen Debatten geführt werden. Wir widersprechen hier vehement: Pseudowissenschaft gehört nicht nur „sachlich kritisiert“, sondern aus wissenschaftlichen Institutionen verbannt. Genauso wie es keine Lehrstühle für Homöopathie geben sollte, muss auch in anderen Kontexten die radikale Forderung denkbar sein, einen Zweig der Pseudowissenschaft vollständig abzuschaffen. Dies wäre für sich genommen keine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit!

Gleichzeitig ist klar, dass dies nur das letzte Mittel sein kann. Insbesondere sollte nicht der Versuch unternommen werden, eine Debatte an der Hochschule durch Einbeziehung der Landes- oder Bundespolitik zu umgehen. Die demokratische Auseinandersetzung sollte in erster Linie an der Hochschule stattfinden und Protest sich in erster Linie an die Mitglieder der Hochschule richten.

Nathalie Saccà

Studierendenrat Tübingen